Tigist Assefa hat am gestrigen Sonntag beim Berlin-Marathon die gesamte Sportwelt (positiv) schockiert.
Die Läuferin aus Äthiopien pulverisierte den Marathon-Weltrekord um mehr als zwei Minuten. Bisher stand der Frauen-Weltrekord über die 42,195 Kilometer bei 2:14:04 Stunden. Nun gab es nicht nur die erste Marathonzeit unter 2:14 Stunden, sondern sogar unter 2:13 und 2:12 Stunden.
Der neue Marathon-Weltrekord von 2:11:53 Stunden wirft aber zugleich auch Fragen auf. Denn seitdem offizielle Weltrekorde im Marathonlauf geführt werden, gab es bisher nie einen so hohen Leistungssprung.
HDsports analysierte das Rennen zum Berlin-Marathon und auch die Entwicklung der Weltrekorde. Schlussendlich kamen wir zu einem eindeutigen Ergebnis bei der Glaubwürdigkeit dieser Leistung.
Der Rennverlauf beim Berlin-Marathon
In der Anfangsphase des Frauenrennens lief eine große Gruppe der führenden Teilnehmerinnen zusammen und passierte die 5 km Marke in 15:58 Minuten. Als sie die 10 km Marke in 31:45 Minuten erreichten, befanden sich noch 13 Frauen in der Spitzengruppe.
Als die 15 km Marke in 47:26 erreicht wurde, hatten Tigist Assefa und ihre Landsfrau Workenesh Edesa einen kleinen Vorsprung vor Sheila Chepkirui aus Kenia sowie den äthiopischen Läuferinnen Senbere Teferi und Zeineba Yimer, die die Silbermedaille über 5000 m bei den Weltmeisterschaften 2015 gewonnen hatte. Obwohl die ersten 12 Frauen bereits einige Abstände zueinander hatten, lagen sie immer noch innerhalb von 15 Sekunden voneinander entfernt und hielten ein beeindruckendes Weltrekordtempo.
Ab Kilometer 17 ohne Konkurrentinnen
Assefa erkannte, dass die meisten ihrer Konkurrentinnen langsam an Energie verloren. So begann sie nun das Rennen mehr und mehr zu kontrollieren. Sie übernahm die Führung bei Kilometer 16 und hatte bei Kilometer 17 Edesa, ihre letzte Konkurrentin, abgehängt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie nur noch einige männliche Tempomacher als Begleitung.
Halbmarathon in 1:06:20 Stunden
Assefa schien an Selbstvertrauen und Geschwindigkeit zu gewinnen, als sie realisierte, dass sie allein an der Spitze des Feldes war. Sie erreichte den Halbmarathon in 1:06:20 und war auf Kurs, den Weltrekord um mehr als eine Minute zu unterbieten.
Dann beschleunigte sie noch weiter. Ihr Vorsprung auf Edesa und Chepkirui wuchs weiter. Assefas 25-km-Zwischenzeit von 1:18:40 Stunden lag immer noch im Bereich des Weltrekords. Chepkirui und Edesa, die nun fast eine Minute hinter der Führenden lagen, hatten zwar das Tempo gedrosselt, befanden sich jedoch immer noch auf Kurs für neue Bestzeiten.
10 Kilometer in 31 Minuten
Obwohl Assefa immer noch außergewöhnlich gelassen wirkte, lief sie die nächsten 10 km in beeindruckenden 31:02 Minuten, sodass sie die 35 km Marke in 1:49:41 Stunden erreichte. Ihr 30-km-Split von 1:34:12 Stunden war die zweitschnellste Zeit in der Geschichte für diesen Kontrollpunkt, nur knapp hinter Ruth Chepngetichs 1:34:01 vom Chicago Marathon 2022.
In der Schlussphase den Turbo gezündet
Im Gegensatz zu Chepngetich, die im vergangenen Jahr bei diesem Rennen stark nachließ, steigerte sich Assefa in der Schlussphase in Berlin kontinuierlich. Sie erreichte die 40 km Marke in 2:05:13 Stunden, nachdem sie die vorherigen 5 km in 15:32 absolviert hatte. Damit lag sie auf Kurs für eine Endzeit im Bereich von 2:12. Mit dem Wissen, dass der Weltrekord zum Greifen nah war, beschleunigte Assefa auf den letzten Kilometern und überquerte die Ziellinie in 2:11:53 Stunden.
Chepkirui sicherte sich den zweiten Platz in 2:17:49, während die Tansanierin Magdalena Shauri einen bemerkenswerten Durchbruch erzielte und in 2:18:41 den dritten Platz belegte, was einen neuen Landesrekord bedeutete.
Riesiger Leistungssprung
Seit Ende 2002 werden offizielle Marathon-Weltrekorde geführt. In diesen gut 20 Jahren gab es weder bei den Frauen noch bei den Männern eine Verbesserung des Weltrekordes um über zwei Minuten.
Bei den Männern war es bisher einzig Eliud Kipchoge, der 2018 eine Verbesserung um mehr als eine Minute realisierte (von 2:02:57 Stunden auf 2:01:39 Stunden), was vor allem auch auf die neue Schuh-Technologie (Carbon-Laufschuhe) zurückzuführen ist.
Bei den Frauen sind aufgrund der sehr geringen Anzahl an offiziellen Marathon-Weltrekorden Leistungssprünge keine Seltenheit. Den ersten offiziellen Weltrekord von Paula Radcliffe aus dem Jahr 2002 verbesserte selbige im Folgejahr um fast zwei Minuten von 2:17:18 Stunden auf 2:15:25 Stunden. Danach blieb diese Leistung 16 Jahre unerreicht, ehe Brigid Kosgei im Jahr 2019 auf 2:14:04 Stunden kam, also einer erneuten großen Verbesserung um weit über einer Minute. Demnach ist vor allem bei den Frauen dieser Leistungssprung bei näherer Betrachtung gar nicht mal so ungewöhnlich.
Berücksichtigen wir auch die Weltbestzeiten, die vor den offiziellen Marathon-Weltrekorden geführt wurden, so ist es der größte Leistungssprung seit 40 Jahren. Im Jahr 1983 verbesserte die US-Läuferin Joan Benoit den Rekord von 2:25:29 Stunden auf 2:22:43 Stunden und damit um 2:46 Minuten.
Vergleich der Differenz zum Männer-Weltrekord
Den Männer Weltrekord hält seit dem vergangenen Jahr Eliud Kipchoge mit 2:01:09 Stunden. Im Vergleich zum neuen Frauen-Weltrekord von Tigist Assefa liegen demnach 10 Minuten und 44 Sekunden zwischen diesen zwei Bestmarken.
Einen derart geringen Abstand gab es zwischen den beiden Geschlechtern allerdings auch in der Vergangenheit. Bei Kosgeis Weltrekord im Jahr 2019 betrug die Differenz 12:25 Minuten. Nach Radcliffes Weltrekord im Jahr 2003 waren es 10:30 Minuten, also sogar etwas weniger als heute.
Demnach ist diese Leistung alles andere als ungewöhnlich. Der große Leistungssprung ist wohl in der geringeren Anzahl der Frauen-Weltrekorde in den letzten 20 Jahren begründet (4 Frauen-Weltrekorde seit 2003, 8 Männer-Weltrekorde seit 2003).
Vergleich der Differenzen zu den Unterdistanzen (5 km / 10 km / Halbmarathon)
Eliud Kipchoge lief bei seinem Marathon-Weltrekord eine Pace von 2:52 Minuten pro Kilometer, Tigist Assefa kam bei ihrem Rekordlauf auf 3:08 Minuten pro Kilometer. Das ergibt eine Differenz von 16 Sekunden.
Betrachten wir nun die Unterdistanzen, ist an dieser Differenz nichts außergewöhnlich. Im Halbmarathon ist die Differenz mit 15 Sekunden sogar geringer (2:44 min/km vs. 2:59 min/km). Über die 10.000 Meter sind es 17 Sekunden (2:37 min/km vs. 2:54 min/km), selbiges trifft auch auf die 5.000 Meter zu (2:31 min/km vs. 2:48 min/km).
Der "alte" Frauen-Marathon-Weltrekord war übrigens 3:11 Minuten pro Kilometer "schnell", also 19 Sekunden pro Kilometer langsamer als bei den Männern. Dieser Vergleich zeigt also eindeutig auf, dass Tigist Assefa bei ihrem Rekordlauf nichts anderes machte, als die Lücke auf einen ähnlichen Wert zu verringern, den es bereits bei den Unterdistanzen von 5 Kilometern bis zum Halbmarathon gibt.
Die Karriere von Tigist Assefa
Die Äthiopierin, die sich sechs Monate auf den Berlin-Marathon vorbereitete, ist eine ehemalige 800-Meter-Läuferin (Bestzeit unter 2 Minuten). Auch das könnte eine der Ursachen für den famosen Weltrekord sein. Die 26-Jährige holte sich also die Grundschnelligkeit über die Mitteldistanzen und ist in einem perfekten Alter, das es erlaubt, schnelle Zeiten zu laufen.
Ihre 800-Meter-Bestzeit ist mit 1:59,24 Minuten zwar nicht auf Weltklasseniveau, trotzdem aber eine gute Grundlage für die Langstrecken. Nach einigen Verletzungen beendete sie früh ihre Bahn-Karriere und stieg auf den Straßenlauf um, wo sie 2018 mit einer 10-Kilometer-Bestzeit von 34:35 Minuten begann. Ein Jahr später lief sie bereits 31:45 Minuten und kam bei ihrem Halbmarathon-Debüt auf starke 1:08:24 Stunden. Nach diesen Leistungen legte sie den Fokus ausschließlich auf lange Distanzen.
Ihr Marathon-Debüt 2022 in Riyadh im März 2022 missglückte. So erreichte sie in nur 2:34:01 Stunden das Ziel. Nur wenige Monate später gelang ihr beim Berlin-Marathon der große Durchbruch, als sie mit einem neuen Streckenrekord von 2:15:37 Stunden ihre Bestzeit um über 18 Minuten steigern konnte.
Schuhe von Tigist Assefa
Ein weiterer wohl ganz entscheidender Grund für diesen herausragenden Weltrekord von Tigist Assefa könnten die Adidas Schuhe sein. Assefa lief beim Berlin Marathon 2023 mit dem Modell "Adidas Adizero Adios Pro Evo".
Die Schuhe wurden erst kurz vor dem Berlin-Marathon von Adidas veröffentlicht und sollen laut Adidas die leichtesten Laufschuhe der Welt sein. 138 Gramm wiegen diese Schuhe und damit nur etwa halb so viel wie klassische Marathon-Laufschuhe.
Diese Laufschuhe, die mit einem Verkaufspreis von 500 Euro ebenfalls neue Sphären erreichen, sind absolut nichts für Hobbyläufer und nahezu ausschließlich für Spitzenathleten mit geringem Körpergewicht geeignet.
Nicht nur Assefa lief beim Berlin-Marathon mit diesen Schuhen, sondern auch die zweitplatzierte Läuferin. Deutschlands Superstar Amanal Petros war ebenfalls mit diesen Laufschuhen erfolgreich. Immerhin gelang ihm ein neuer nationaler Rekord (Nachlese: Deutschlands schnellster Marathonläufer Amanal Petros ist Europas Nr. 4).
Weitere mögliche Ursache für die vielen Weltrekorde in den letzten Jahren
Neben dem Schuhwerk profitieren vor allem Afrikas Läufer von immer besser werdenden Möglichkeiten zur Trainingssteuerung und einem professionellem Trainingsumfeld.
Auch das könnte eine Ursache für die immer größer werdende Kluft zwischen Spitzenläufern und Hobbyläufern sein.
Auch in den Bereichen der Regeneration und medizinischer Behandlungen sind die Bedingungen in Afrika deutlich besser geworden. Die Spitzenläufer werden quasi rund um die Uhr versorgt, alles ist auf ein optimales Trainingsumfeld und perfekte Regenerationsmaßnahmen zwischen den Einheiten ausgelegt.
Fazit: Der Marathon-Weltrekord von Tigist Assefa ist definitiv realisitsch
Vor allem der Vergleich mit den Weltrekorden der Männern belegt, dass diese Marathon-Leistung von Tigist Assefa in keinster Weise zweifelhaft ist und sogar längst überfällig war.
Denn Männer laufen über die Unterdistanzen etwa 15 bis 17 Sekunden pro Kilometer schneller. Über die Marathondistanz waren es bis Sonntag sogar 19 Sekunden, ehe Assefa mit ihrer Marathonleistung diesen Wert auf 16 Sekunden reduzierte und damit in den Normbereich bewegte.
Nachlese: Ergebnisse Berlin Marathon 2023
Marathon-Weltrekord in Berlin: Die Splitzeiten von Tigist Assefa
Halbmarathon:
- 1:06:20
- 1:05:33
10 Kilometer:
- 31:44
- 31:07 (1:02:51)
- 31:20 (1:34:11)
- 31:02 (2:05:13)
5 Kilometer:
- 15:58
- 15:46 (31:44)
- 15:40 (47:26)
- 15:25 (1:02:51)
- 15:48 (1:18:39)
- 15:32 (1:34:11)
- 15:30 (1:49:41)
- 15:32 (2:05:13)
- Die letzten 5 Kilometer bis zum Ziel: 15:23
Ebenfalls sehr interessant: So trainiert Marathon-Weltrekordhalter Eliud Kipchoge
Kommentare
Dann beschleunigte sie noch weiter und legte den nächsten Kilometer in 2:48 Minuten zurück, was der schnellste Kilometer des Rennens bis zu diesem Zeitpunkt war. Ihr Vorsprung auf Edesa und Chepkirui wuchs weiter.
Dies ist leider nicht korrekt. Die 2:48 waren der Split vom Halbmarathon bis 22 km. Dies sieht man auch daran, dass der Split zuvor 3:29 betrug.
Dieser Fehler steht immer noch auf der Webseite vom Berlin Marathon und sollte korrigiert werden. Statt 3:29 und 2:48 lauten die korrekten Splits: 3:08 und 3:08.
Schade finde ich, dass die erste deutsche Läuferin Domenika Mayer so wenig gewürdigt wird.
Bei den Männern werden wir auch bald erleben, dass die zwei Stunden unterboten werden. Alles nur noch eine Frage der Zeit.
Ich lief zum dritten Mal die eine asphaltierte Strecke beim jährlichen Frauenlauf Saarlouis. Bei den ersten beiden male (2021 und 2022) trug ich meine Allrounder von Saucony Endorphine Shift 1. Alles gut soweit. In diesem Jahr lief ich mit meinen kürzlich zuvor erhaltenen Asics Novablast 3. Ein himmelweiter Unterschied. Ich lief mit einer Leichtigkeit, war mit einer deutlich schnelleren Pace unterwegs und habe meine Bestzeit auf 5 km um 2 Minuten geschlagen. Und sogar um 7 auf der Distanz insgesamt. Ich sag es euch. Die Schuhe machen auf Tempo und Asphalt genau das wofür sie gemacht wurden.
Assefa hat das von vornherein spitze gelaufen und verdient den WR gebrochen.
Das einzige, das ich sicher sagen kann, ist, es war sauschnell!